Fotos: ©V. + H. Holzinger
Wie schnell Vorurteile entstehen und sich dann ins Nichts auflösen, davon können wir bei unser Fahrt nach Estland ein Lied singen.
Gleitest auf einer Landstraße in Lettland in einer geschlossenen Kolonne mit rund 80 km dahin – geht halt nicht schneller – und siehst im Rückspiegel, wie ein Wagen immer wieder aus der Kolonne ausschert, sich dann ein oder zwei Autos weiter vorne hinein zwickt und die restlichen Autofahrer zum Bremsen zwingt. Wenn der PKW dann, trotz dichten Gegenverkehrs, bei dir vorbeirauscht, schaust natürlich auf das Kennzeichen und stellst fest, dass es ein estnisches ist.
Nicht einmal, sondern öfter erlebt und schon denkst du dir, na das kann ja heiter werden. Tja, und dann bist du in Estland unterwegs und siehe da, neunundneunzig Prozent der Fahrer oder Fahrerinnen halten sich an die Verkehrsregeln, sind sogar sehr zuvorkommend, wenn so ein Dickerl aus Österreich des Weges kommt und der Fahrer oder die Fahrerin trotz Navigationssystems sich erst orientieren muss.
Und weil wir schon beim Fahren und bei den Straßen sind. Neben den gut ausgebauten Fernstraßen brauchen sich auch die Nebenstraßen meist nicht zu verstecken.
Hin und wieder noch Schotterstraßen oder sehr schmal, aber großteils gepflegt und gut befahrbar.
Etliche Baustellen zeugen davon, dass die Infrastruktur laufend verbessert wird, um den immer dichter werdenden Verkehr besser aufnehmen zu können.
Estland befindet sich nämlich auf der Überholspur in Richtung Tourismus. Hauptanziehungspunkt ist die Hauptstadt Tallinn, dicht gefolgt von den Städten Tartu, Narva, Pärnu und Haapsalu.
Ob seiner Schönheit quillt Tallinn auch in der Vorsaison über von Besuchern und Besucherinnen aus aller Herrenländer.
Die Universitätsstadt Tartu gehört eindeutig zu unseren Lieblingsstädten in Estland. Sehr gepflegt, gut renoviert und was noch nicht glänzt wird derzeit poliert.
Wer mit dem Wohnmobil unterwegs ist und sich die Stadt genauer ansehen will, was sicher empfehlenswert ist, findet einen guten Unterschlupf am Stellplatz im Jachthafen, der am Ufer des Emajögi, im Stadtteil Karlova liegt.
Hier gibt es Ver- und Entsorgung, WC und Dusche, Strom, W-Lan und vor allem die Möglichkeit, schnell in die Stadtmitte zu kommen.
Mit dem Fahrrad ist es nur ein Katzensprung, auch zu Fuß ist die Strecke zu bewältigen. Es gibt auch eine Busverbindung, die wir leider nicht nutzen konnten, da sich bei unserem Besuch Tartu eindeutig im Ausnahmezustand befand. Wir platzten genau in das größte Radrennen in Ost-Europa, dem Tartu Rattaralli. Nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für uns ein absolutes Highlight. Ausgelassene Stimmung, Jugend- und Familienwettbewerbe, Musik und Menschenmassen, die die Teilnehmer des Radrennens frenetisch anfeuerten. Danach noch eine schöne, sehenswerte Altstadt – was willst mehr.
Die einstige Hansestadt Narva liegt idyllisch am gleichnamigen Fluss und erlaubt einen Blick hinüber nach Russland.
Hauptanziehungspunkt ist jedoch die alte Ordensburg Hermanni Innus, die davon zeugt, welch wechselvolle Geschichte Estland erleben musste.
Rund 800 Jahre Fremdherrschaft hinterließen nicht nur in Narva ihre Spuren. Die Hermannfeste, von den Dänen erbaut, von den deutschen Ordensrittern ausgebaut, lange Zeit zu Russland gehörend und nun Außengrenze der EU.
Nur durch die Narva getrennt thront gegenüber die mächtige Festung Iwangorod mit ihren trutzigen Mauern – ganz nah und doch durch eine Grenze mit massiven Sicherungsmaßnahmen getrennt.
Ganz ein anderes Flair erwartet einen in der ehemaligen Hansestadt Pärnu. Dank der Lage an der Ostsee und des langen Sandstrands gilt Pärnu nicht nur als Heil- und Seebad, es zieht auch Massen von Touristen und Touristinnen an.
Im Sommer ist hier Highlife, da ist eher Party-Time und nicht die Besichtigung der schönen Holzhäuser oder des alten, sehenswerten Stadtkerns angesagt.
Campingfreunde stehen ganz gut auf dem Konse Motel & Karavan Camping, der über sämtliche Infrastruktur verfügt und auch mit einer Gastwirtschaft aufwartet, die bei unserem Besuch leider nur die Möglichkeit für Getränkekonsum bot.
Kleiner Tipp für Modebewusste: Schauen Sie in die kleinen Boutiquen im Stadtzentrum. Die angebotenen Mode könnte das ein oder andere zukünftige Lieblingsstück enthalten.
Wer das ebenfalls an der Ostsee gelegene Städtchen Haapsalu besucht und das bekannte Eisenbahnmuseum sucht, der oder die braucht nur der Kolonne der Reisebusse folgen.
Der Bahnhof wurde 1909 eigens für die Zarenfamilie errichtet, die hier gerne urlaubte.
Eisenbahn-Fans werden die alten Züge, samt Lokomotiven, lieben, die im Freien ausgestellt sind.
Der kleine Ortskern punktet mit alten Holzhäusern, die von der mächtigen Ordensburg und der Domkirche überragt werden.
All jene, die länger in Haapsalu bleiben wollen oder ein Plätzchen für die Nacht suchen, für die gäbe es den Campingplatz Pikseke, der im Grünen rund 2 km vor Haapsalu liegt. Ver-, Entsorgung, W-Lan beim Haus, Strom, WC und ordentliche Dusche – passt.
Aber nicht nur in den Städten kommen Kulturinteressierte auf ihre Kosten. Über das ganze Land verstreut findet man Burgen und Schlösser, die die wechselvolle Geschichte widerspiegeln. Nicht zu vergessen auf die prunkvollen Herrenhäuser, deren Errichtung oft auf das 13. und 14. Jahrhundert zurückgeht. Viele wurden im Laufe der Jahrhunderte durch Kriege verwüstet oder verloren die ihnen zugedachte Funktion und verfielen. Heutzutage werden die noch erhaltenen Herrenhäuser liebevoll restauriert und dienen oft als Hotel oder Museum.
Das meistbesuchte und bekannteste Landgut ist wohl das Herrenhaus Palmse, das einst als Nonnenkloster geführt wurde und im 17. Jahrhundert ausgebaut und mit einem prächtigen Garten ausgestattet wurde.
Ebenfalls eingebettet in Parks ist das frühklassizistische Herrenhaus Sagadi, das dank seiner Nähe zu Tallinn ein Besuchermagnet ist.
Ein Hauch von Schottland umweht das Schloss zu Alatskivi, das nach dem Vorbild der königlichen Residenz Balmoral errichtet wurde. Die am Alatskivi-See gelegene Schlossanlage wird von einem rund 120 Hektar großen Schlosspark umgeben und zieht jährlich tausende Besucher und Besucherinnen an, die das kulturelle Angebot schätzen.
In einem weitläufigen Park, am Mutsoja-Fluss gelegen, findet man den Gutshof Vihulja. Der komplett sanierte Komplex wurde 1501 erstmals erwähnt und wird heute als luxuriöses Hotel genutzt.
Estland hat viele Gesichter und eines davon ist wohl die rund 600 Kilometer lange Festlandküste an der Ostsee.
Im Gegensatz zu den Stränden in Litauen und Lettland findet man hier weniger Sandstrände, Klippen fallen steil ins Meer, dichte Schilfflächen, die weit ins Wasser reichen oder auch Vegetation, die schmale Sandstrände begrenzt.
Die Küste ist oft geprägt von der Eiszeit, die hier und auch im Landesinneren ihre Spuren hinterlassen hat. Die sich einst zurückziehenden Eismassen hinterließen mächtige Findlinge, die noch heute oft an der Nordküste und auch im Landesinneren zu finden sind.
Wer Sandstrand bevorzugt, wählt wohl die Umgebung von Pärnu, Haapsalu oder Tallinn, wer es wilder bevorzugt, der besucht den Lahemaa-Nationalpark.
Estlands größter Nationalpark liegt zu zwei Drittel an der Ostsee, der Rest ist die Ostsee selbst.
Hier findet man die meisten Findlinge, auch einige kleine Sandstrände dürfen nicht fehlen.
Kleine Fischerorte mit gepflegten Kapitänshäusern laden zum Relaxen, im Landesinneren plätschert ein kleiner Wasserfall, Wanderer kommen in den dichten Wäldern und der oft steppenartigen Landschaft auf ihre Rechnung.
Einen Besuch sollte auch der Glintküste abgestattet werden, die zu den schönsten Küstenabschnitten an der Ostsee zählt.
Das aus Kalkschichten aufgebaute Plateau ist an die 20 bis 50 Meter hoch, mehrere Wasserfälle ergießen sich vom Plateau hinunter zum Meer, dichter Wald säumt oft die Ränder und talartige Einschnitte unterbrechen die Steilküste.
Für Camping-Fans haben wir hier unseren absoluten Topp-Hit für einen längeren Aufenthalt oder auch nur für eine Übernachtung.
Der in mehreren Stufen angelegte Campingplatz Mereoja liegt völlig ruhig bei Limala, direkt über dem Meer, das man über Stufen erreicht.
Er bietet nicht nur sämtliche Infrastruktur, die von der Waschmaschine über Trockner bis zu Ver- und Entsorgung, modernen Sanitärräumen und WiFi reicht, er wird auch durch das äußerst freundliche und kompetente Personal sehr gut gepflegt – ein Ort, an dem man so richtig entspannen und die Natur genießen kann – absolut empfehlenswert.
Für Vogelliebhaber und -liebhaberinnen ist das circa 500 Quadratkilometer große Matsalu-Naturschutzgebiet ein wahres Paradies. Das nahezu unberührt gehaltene Gebiet beherbergt Seeadler oder Kormorane, die Auen, Schilf- und Heideflächen bieten Schlangen, Echsen, Rehen, zahlreichen Vögeln und noch mehr Insekten einen idealen Lebensraum.
Wer sich ins Landesinnere begibt, verlässt auch oft die ausgetretenen touristischen Trampelpfade. Eine grandiose Feuchtlandschaft bildet der Soomaa Nationalpark, der zu den unwegsamsten Sumpflandschaften Nordeuropas zählt.
Hier sind noch Bären, Wölfe und Elche zu finden, hier kann es im Frühjahr ohne weiteres vorkommen, dass ganze Teile überschwemmt und nicht oder nur per Boot zugänglich sind. Naturbegeisterte können auf Bohlenwegen das Hochmoor erwandern, mit dem Kanu erforschen oder an geführten Moorwanderungen teilnehmen.
Die estnische Sprache lehnt sich ja an das Finnische an, auch Wörter aus dem Deutschen werden in abgewandelter Form verwendet. Als Tourist oder Touristin kommt man ganz gut mit Englisch durch, zweitweise jedoch könnte es nicht schaden, wenn man Russisch könnt’.
Genau das trifft auf das Gebiet entlang der russischen Grenze zu, wo noch viele russischstämmige Altgläubige leben, die nach dem Nordischen Krieg zwischen 1700 und 1721 ihre einstige Heimat verließen und deren Lebensart sich stark vom Rest des Landes unterscheidet.
Auch entlang des Peipsi-See, der uns mit Regen und Nebel empfing, können einige Brocken Russisch die Verständigung unheimlich erleichtern. Sollte das Wetter jedoch mitspielen, finden Badelustige stellenweise feinsandige Strände, die zum Baden einladen. Der Binnensee erstreckt sich weit über die russische Grenze und gewährt ob seiner Größe keinen Blick zum anderen Ufer.
Fischliebhaber und -liebhaberinnen sollten die Gelegenheit nutzen und bei den entlang der Strecke angebotenen Fischen zugreifen, sie schmecken fantastisch und sind für uns mehr als günstig.
Und weil wir schon beim Baden sind. Auch in Estland scheint im Sommer die Sonne warm vom Himmel und es gibt Temperaturen, die zum Baden einladen. Da bieten sich nicht nur die kühlen Fluten der Ostsee an, sondern die zahlreichen Seen warten mit angenehmeren Temperaturen auf. Die unzähligen Seen sind auch Paradiese für Angler und Anglerinnen, die aus Karpfen, Aalen, Hecht oder Forellen wählen können.
So findet man bei Palmse einen der schönsten estnischen Badeseen, den Pikkjärv.
Nahe Kurtna stehen gleich über 30 Seen zur Auswahl. Die Gegend lädt auch zum Wandern ein, auch kann man vom Kuradimägi, dem Teufelsberg, einen weiten Blick über die grünen Hügeln und das weitläufige Moor- und Sumpfgebiet erhaschen.
In sanfter Hügellandschaft eingebettet liegt das Vooremaa-Seengebiet, dessen südlichster See, der Saadjärv, zu dem beliebtesten Badeseen des Gebietes zählt.
Im Haanja Nationalpark liegt nicht nur der tiefste See Estlands, der Suurjärv, hier kann man auch den höchsten Berg des Landes, den über 300 Meter hohen Suur Munamägi erwandern.
Auf seinem Gipfel wartet ein Aussichtsturm, der über einen Aufzug verfügt und von dem man einen schönen Blick über die Landschaft hat. Wer seinen Lieben einen Gruß senden will, kann dies vom im Turm angebrachten Terminal und schon wissen die Daheimgebliebenen, dass es einem selbst gut geht.
Im Winter ist das Gebiet rund um die Ortschaften Rouge, Otepää und Haanja für den florierenden Wintertourismus zuständig, im Sommer laden zahlreiche andere, kleine oder größere Seen zum erfrischenden Badevergnügen.
Zum Erforschen des Haanja Nationalparks bietet sich der Campingplatz Hämsa Körts an, der zwischen Vöru und Haanja zu finden ist. Strom, Ver- und Entsorgung ohne Grauwasser, WiFi im angeschlossenen Gasthof, Duschen im dazugehörigen Gästehaus – gemütlich.
In der Mitte von Estland liegt der zweitgrößte See des Landes, der Vörtsjärv, der touristisch eher eine bescheidene Rolle spielt, da er nur stellenweise zugänglich ist, im Sommer aber mit angenehmen Badetemperaturen aufwartet.
Wir haben unsere Fahrt kreuz und quer durch Estland und die langen Nächte im Mai und Juni genossen. Wir haben nette Menschen kennengelernt, die stolz auf ihr Land sind und die Fremde freundlich aufnehmen – ein Land, das zum Entdecken einlädt und in dem Natur und Kultur zu Hause sind.
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